Kunstgeschichte. Was für den einen schreckliche Erinnerungen an den Kunstunterricht der Mittel- und Oberstufe hervorruft, ist für den anderen absolute Leidenschaft. So oder so bewegt die Kunstgeschichte die Gemüter – und wird oft maximal als Zweit- oder Seniorenstudium akzeptiert, ansonsten eher als brotlose Zunft abgetan. Diese Sicht ist nachvollziehbar, denn schließlich interessieren sich eher wenige Menschen für Kunsttheorie im Speziellen oder Geschichte im Allgemeinen. Und zugegeben: in der Gegenwart zu leben ist schon anstrengend genug, da bleibt wenig Kopf für das Vergangene, vor allem wenn es sich nur um ein paar nette Bilder handelt.
Auch für mich war Kunstgeschichte lange ein Graus. Bis ich einen anderen Zugang zu diesem Fachgebiet gefunden habe, das so viel mehr bietet als trockene Theorie und einschläfernde Jahrestafeln. Für mich ist Kunstgeschichte mittlerweile zur echten Geschichte über die Kunst geworden, und damit vor allem zur Geschichte jener Menschen, die sie schufen – ihrer persönlichen Schicksale, Erlebnisse, Ängste und Sehnsüchte. Und eine Geschichte jener Zeiten, in denen die großen Künstler lebten, die wir noch heute verehren, und die selbst nicht anders waren als wir: einfache Menschen, die ihrem persönlichen Lebensweg folgten und sich durch die Wirren ihrer Zeit kämpften, auf der Suche nach Hoffnung, Trost, Erlösung und vor allem einem: der Schönheit. Einer jeden Zeit ist es vorherbestimmt, eines Tages aus der Gegenwart zu fallen und in die Geschichte überzugehen; auch unser Zeitalter wird einst in die Kunstgeschichte übergehen, selbst wir werden zu langweiligen Namen und Jahreszahlen verkommen. Sind wir oder unsere Zeit deshalb öde und sollten dem Vergessen anheimfallen?
Natürlich nicht.
Und daher ist es wichtig, auf die Geschichte der Kunst zu blicken, auf die Geschichte jener Menschen und Werke, die auch heute noch für lange Schlangen im Pariser Louvre oder den Florentiner Uffizien sorgen – auch wenn das Interesse der Besucher meist auf die Oberfläche beschränkt bleibt. Es lohnt sich, die Vergangenheit zu bewahren und sich den geschichtlichen Umständen großer Künstler zu stellen. Denn dabei stößt man auf Biografien, die sich teils lesen wie ein spannender Kriminal- oder Liebesroman, und die in jedem Fall zutiefst menschliche Bedürfnisse, Kämpfe und Wünsche zu Tage bringen.
Geheimnisvolles Genie: Leonardo da Vinci
Als Ausgangspunkt zur (Wieder-Entdeckung) der Geschichte der Kunst eignet sich ein spezieller Künstler ganz besonders: Leonardo da Vinci, jener große Maler der Renaissance, der als geheimnisvolles und sagenumwobenes Universalgenie in der Popkultur und in atemberaubenden Verschwörungstheorien einen festen Platz eingenommen hat. Wir alle kennen sein Werk der Mona Lisa, diese geheimnisvoll lächelnde Frau, deren Namen und persönlichen Hintergrund wir nur vermuten, nicht aber mit Sicherheit wissen können.
Doch da Vincis Geschichte beginnt weder mit der Mona Lisa, noch endet sie mit ihr. Sie beginnt mit seiner Geburt im Jahre 1452 im italienischen Örtchen Vinci, führt durch die großen und erblühenden Metropolen der frühen Neuzeit und endet schließlich mit seinem Tod im Jahre 1519. Umrahmt wird sie von den Geschehnissen seiner Zeit, der Renaissance, die im 15. Jahrhundert eine neue Sicht auf den Menschen, seinen Platz in der Natur und im Christentum ermöglichte und die europäische Kultur für immer veränderte. (Wenn ihr mehr über die Zeit der Renaissance erfahren wollt, dann schaut doch gerne bei meinen Wissenshappen über die Erfindung der Zentralperspektive oder die Entwicklung des internationalen Kreditwesens vorbei).
Verbotene Leidenschaften und unmögliche Erfolge
Als uneheliches Kind eines Notars und einer Bäuerin wurde Leonardo da Vinci in eine Zeit hineingeboren, in der ihm nur geringe Bildungsmöglichkeiten und noch weniger Chancen für ein ertragreiches, erfolgreiches Leben zur Verfügungen standen. Und dennoch gelang es ihm aufgrund seines unbändigen Talentes den Weg in die Kunst zu finden, die zur damaligen Zeit als einfaches Handwerk zählte und bis auf wenige Ausnahmen nur geringe Auskünfte ermöglichte. Doch Leonardo bewies bereits früh sein großartiges Können und legte schnell eine beachtliche Karriere hin – bis er als junger Mann einen handfesten Skandal auslöste, weil er mit einem geistig behinderten Diener in der Werkstatt seines florentinischen Meisters auf Tuchfühlung gegangen sein soll.
Leonardo da Vinci war also nicht nur jener mysteriöse Universalgelehrte und unerreichte Künstler, den wir noch heute bewundern. Hinter all seinem Genie war auch er nur ein Mensch, der seine eigenen Bedürfnisse und geheimen Wünsche hegte, die in vielen Fällen den Vorstellungen der Gemeinschaft widersprachen. Auch er war ein Opfer seiner Zeit, das aufgrund seiner – vermutlichen – sexuellen Neigung die Heimat verlassen musste, um einer möglichen Verurteilung zu entfliehen (ein Schicksal, das leider auch heute noch viel zu oft Normalität darstellt).
Aber Leonardo war nicht nur ein Vertriebener, sondern auch ein Stehaufmännchen, das Dank der eigenen vielfältigen Talente neue Möglichkeiten fand – und als Ingenieur für Kriegsmaschinen am Hofe des Mailändischen Herzogs, Ludovico Sforza, anheuerte (eine ebenfalls höchst faszinierende Figur seiner Zeit). Im politisch zerrissenen Italien des 15. Jahrhunderts standen Kriege und militärische Handlungen an der Tagesordnung, so dass neue Kriegswaffen heiß begehrt waren; Leonardos fantastische Entwürfe sollten aufgrund ihrer Komplexität dennoch nie das Licht der Welt erblicken. Was nach einer berufliche Niederlage klingen mag, hat jedoch nichts zu bedeuten: der visionäre Alleskönner wurde am überaus reichen und zugleich kunsthungrigen Mailänder Hof vor allem für seine Malerei und seine gesellschaftlichen Talente über alle Maßen bewundert.
Von Forschungsgeist und Malerkunst
Neben all seinen Leistungen und seinem Talent war Leonardo da Vinci vor allem aber eines: ein ruheloser Geist, getrieben durch seine unbändige Neugier für alles, was die Welt zusammenhält. Er war ein Naturforscher, der die Gesetze der Natur zu entschlüsseln versuchte, die Anatomie des Menschen (trotz Verbotes des Kirche) untersuchte, das Wachstum von Blumen, das Sprudeln des Wassers, die Beschaffenheit der Luft und den Flug der Vögel dokumentierte. Er war ein Designer fantastischer, utopischer Maschinen, war Bildhauer, Musiker und Schauspieler, Charmeur und Unterhaltungstalent und er war ein Künstler, der sich nie zufrieden gab mit seinem Werk, sich aber auch selten auf nur eine Aufgabe konzentrieren konnte. Nicht zuletzt war Leonardo zudem ein unbändiger, unkonventioneller Freigeist, der bei jeder Gelegenheit gefangene Vögel von Händlern aufkaufte, um sie in die von ihm heißgeliebte Freiheit zu entlassen – und um sie für ihre Flugkünste zu beneiden.
Als Maler freilich war Leonardo bereits zu Lebzeiten weltberühmt: sein Letztes Abendmahl, das er von 1495 bis 1498 mit einer höchst eigenwilligen (und leider nicht besonders langlebigen) Grundierung an die Wand des Mailänder Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie zauberte, begeisterte bereits die Menschen seiner Zeit und brachte sogar den französischen König zum Jubeln. Seine Maltechnik (bekannt als Sfumato, also „neblig“ oder „verschwommen“), die sich durch die besonders weichen Übergänge der möglichst naturgetreuen Landschaften und Darstellungsobjekte auszeichnete, gelangte durch ihn zu Perfektion und Berühmtheit.
Ein großer Geist, zu früh erwacht
Um sein Auskommen musste sich der Mann aus ärmlichen Verhältnissen nie Gedanken machen – viel schwieriger, gar unmöglich, war es für ihn hingegen, sich auf nur einen Auftrag, nur ein Gemälde oder gar nur eine Lösung eines Problems zu konzentrieren. Und so schuf er im Laufe seines Lebens mehr als 100.000 Skizzen (die jedoch vermutlich nur einem Drittel seiner tatsächlichen Notizsammlung entsprechen), die eine unglaubliche Vielzahl an Ideen für unzählige Probleme und Themengebiete boten. Doch trotz dieser großartigen Schaffenskraft sind letztlich nur 13 Gemälde dem eindeutigen malerischen Erbe Leonardo da Vincis zuzuordnen. Eine überschaubare Zahl für einen derart großen Geist, der seiner Zeit mit seinen Ideen, empirischen Studien und utopischen Entwürfen weit voraus war.
Leonardo da Vinci verbrachte sein Leben in Florenz, in Mailand und Rom und starb in Frankreich – wie so viele war er ein Mensch, der durch die politischen Unruhen und Umbrüche seiner Zeit quasi wurzellos von einem Auftraggeber, von einem Mäzen und Herrscher zum nächsten ziehen musste. Über 500 Jahre ist sein Tod nun her, und noch immer feiern wir seine Werke und bewundern das Leben dieses mysteriösen Mannes, über den Sigmund Freud so treffend schrieb:
„Er glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen.“
Leonardo da Vinci darf uns als Beispiel dafür dienen, wie unerschöpflich die Kunstgeschichte ist, wenn wir uns auf der Suche nach bewegenden, faszinierenden und außergewöhnlichen Biografien befinden. Und als mahnender Hinweis, dass hinter jedem Gemälde vor allem ein Mensch steht, dessen Werke wir immer auch im Kontext seiner Zeit verstehen sollten – eine Zeit, die vielleicht trotz vergangener Jahrhunderte gar nicht so anders ist als unsere eigene.
Doch bevor dieser Wissenshappen noch zu einem echten Brocken ausartet, soll er in zwei Wochen mit dem Beitrag über einen weiteren, gar göttlichen Künstler der italienischen Renaissance seinen Abschluss finden.
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Nachschlag?
Hein, T. (2018). Visionär einer neuen Welt. GEO EPOCHE EDITION Nr. 17: Die großen Maler Teil 1: Von Sandro Botticelli bis Jan Vermeer (1475-1675)*, 17/2018, 26-39.
Klein, S. (2009). Da Vincis Vermächtnis oder wie Leonardo die Welt neu erfand* (2. Auflage). Frankfurt am Main, Deutschland: S. Fischer Verlag GmbH.
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Warum gibt es diesen Wissenshappen?
In Zeiten, in denen sich die Welt konstant verändert und die Zukunft unvorhersehbar ist, fällt es oftmals schwer, einen Sinn für das Vergangene und Schöne zu haben. Das Leben, das wir heute führen, ist schließlich anstrengend genug. Doch sind wir nicht die ersten Menschen, die sich durch wirre und beängstigende Zeiten kämpfen. Auch unsere Vorfahren folgten ihren individuellen Lebenswegen durch gesellschaftliche Umbrüche, widrige Umweltbedingungen, Krankheiten, Kriege und soziale Unruhen, und so manch einer schaffte es dennoch, die eigenen Sehnsüchte und Wünsche, kollektiven Träume und unkonventionelle Gedanken in einzigartigen Kunstwerken festzuhalten. Einer jeden Zeit, auch der unseren, ist es vorherbestimmt, eines Tages aus der Gegenwart zu fallen und in die Geschichte überzugehen, und es ist die Aufgabe künftiger Generationen, sich ihrer zu erinnern. Die Kunstgeschichte – als oft belächeltes Fachgebiet – bietet uns einen einzigartigen, ästhetischen und persönlichen Zugang zur Vergangenheit und dem Leben und Wirken unserer Vorfahren. Sie ist somit weit mehr als ein respektables Senioren- oder Zweitstudium – sondern ein eindrucksvolles Zeugnis der menschlichen Geistes- und Schaffenskraft.
Was sollte unbedingt verdaut werden?
Wir alle kennen Leonardo da Vincis großartige Meisterwerke, darunter natürlich die Mona Lisa oder das Letzte Abendmahl. Aber der Mensch Leonardo war mehr als nur der große Künstler oder das mysteriöse Universalgenie: er war ein Getriebener. Getrieben durch seine geheimen Sehnsüchte und die Verbote seiner Zeit, aber auch durch den eigenen unstillbaren Drang nach Perfektion und Wissen, der ihn dazu bewegte, die Welt auf vielfältige Weise zu untersuchen und in mehr als 100.000 Notizen und Skizzen einzufangen. Bereits zu seiner eigenen Zeit wurde Leonardo für sein Talent und seine brillanten Ideen, aber auch seine charmante und gewinnende Art bewundert. Viele seiner visionären Ideen – über furchterregende Kriegsmaschinen bis hin zu utopischen Fluggeräten – blieben nichts anderes als fantastische Luftschlösser, zeugen aber von einem Geist, der seiner eigenen Zeit weit voraus war. Und trotz (oder gerade wegen) dieser unfassbaren Menge und Breite an Ideen gelang es Leonardo selten, sich nur auf einen Auftrag oder nur eine Lösung zu konzentrieren, so dass am Ende dieses großartigen Künstlerlebens nicht mehr als 13 Gemälde eindeutig überliefert sind – die unsere Fantasie und Begeisterung aber umso mehr entfachen.
Disclaimer:
Der obenstehende Text wurde auf Grundlage der gelisteten Quellen erstellt, ist aber explizit unter Berücksichtigung der subjektiven Erkenntnisse, Vorlieben und dem persönlichen Verständnis der Autorin aufzufassen. Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Ausarbeitung mit akademischen Anspruch, sondern um eine Zusammenfassung von Geschehnissen und Erzählungen nach individuellem Stil und Empfinden der Autorin. Ausnahmslos jeder Wissenshappen möchte Freude am Wissen schaffen, aber nicht als Fachliteratur verstanden werden. Über Anmerkungen, Ergänzungen, Lob oder Kritik freut sich die Autorin und lädt jeden Leser dazu ein, über die Kommentarfunktion Kontakt aufzunehmen.