Written by: Kunstgeschichte Renaissance

Jenseits der Leinwand: Die versteckte Schönheit der Kunstgeschichte (Teil II)

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Die Kunstgeschichte ist wahrlich kein Fach des Mainstreams – auch wenn viele von uns vermutlich den einen oder anderen beeindruckenden Kunstband zuhause dekorativ auf unserem Couch- oder Beistelltisch liegen haben. Ungelesen, meist, aber definitiv schön anzusehen. Doch es lohnt sich, den dicken Einband vom Tisch zu lösen und einen interessierten Blick in die Seiten zu werfen, die uns von den Künstlern und Kunstwerken vergangener Zeiten berichten. Denn die Kunstgeschichte ist, wenn sie gut erzählt wird, weitaus mehr als ein Sammelsurium langweiliger Namen, Jahreszahlen und Abbildungen. Sie kann so viel mehr sein als das: die Geschichte über die Kunst und ihre Zeiten, über jene Menschen und Ereignisse, die sie beeinflussten und veränderten. Eine stets zutiefst persönliche Geschichte, die Stoff für ganze Romane liefern kann.

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Aber auch ihr scheint der Kunstgeschichte nicht abgeneigt zu sein, wenn ihr nach dem letzten Wissenshappen, der ebenfalls der Kunstgeschichte gewidmet war, hierher zurückgefunden habt. Und dafür möchte ich euch mit einer weiteren Geschichte über die Kunst danken.

Der Gott der Kunst: Michelangelo Buonarroti

Der letzte kunsthistorische Wissenshappen stand ganz im Zeichen eines der großartigsten Künstler der Neuzeit: Leonardo da Vinci, das mysteriöse Universalgenie, das wir auch heute noch vor allem für seine weltberühmte Mona Lisa bewundern. Diesen fantastischen Geist und seine Werke zu übertreffen mag unmöglich scheinen, doch wenn es einen Meister gibt, der sich mit Leonardos Schaffenskraft messen kann, dann wohl einer: Michelangelo Buonarroti. Jener Michelangelo, der den weltberühmten David schuf, dessen ästhetische Nacktheit auch heute noch begeisterte Touristen in Florenz bewundern, und der bereits zu Lebzeiten als großartigster Künstler seiner Zeit, gar als il Divino, der Göttliche, gefeiert wurde.

Vom kriminellen Newcomer zum Lieblingskünstler des Papstes: Michelangelos Weg nach Rom

Wie auch Leonardo da Vinci wurde Michelangelo in eine Familie geboren, in der sein künstlerischer Werdegang keineswegs vorherbestimmt war. Im Gegenteil, musste sich der begnadete Junge doch gegen einen ehrgeizigen Vater durchsetzen, der ihn mit Prügel vom wenig angesehen Handwerk der Kunst abbringen wollte. Doch das Talent und die Leidenschaft siegten, und der minderjährige Sturkopf konnte seine ersehnte Kunstausbildung beginnen, die er jedoch, vermutlich aufgrund persönlicher Querelen mit seinen Vorgesetzten, vorzeitig abbrach. Anstatt einen ordentlichen Abschluss seiner Ausbildung zu erlangen, heuerte Michelangelo kurzerhand als Künstler am Hof der mächtigen und kunstaffinen Medici an (mehr Hintergründe zum Florenz in Zeiten der Medici findet ihr in diesem Wissenshappen).

Attributed to Daniele da Volterra creator QS:P170,Q540489,P5102,Q230768, Michelangelo Daniele da Volterra (dettaglio), gemeinfrei, Wikimedia Commons

Doch damit sollte sein bewegtes Leben eigentlich erst so richtig beginnen, denn Michelangelo war ebenso umtriebig wie begabt. Als in Florenz im Jahre 1494 unter anderem dank des Wanderpredigers Girolamo Savonarola unruhige politische und religiöser Zeiten ausbrachen (eine ganz eigene, höchst spannende Geschichte!), zog es ihn stattdessen nach Rom, das für mehrere kürzere Aufenthalte und letztlich auch auf Dauer seine neue Heimat werden sollte. Hier gelang es ihm schnell, mit seinem Talent aufzufallen, wenn auch zunächst auf leicht kriminellen Abwegen: ganz im Stil der Antike schuf Michelangelo für seinen Einstieg in der Heiligen Stadt die Statue eines Cupido und verkaufte diese als vermeintliches Original an einen kunsterfahrenen Kardinal. Der Schwindel flog auf, doch sein offenkundiges Talent rettete Michelangelo die Haut: so musste er lediglich den Kaufpreis zurückerstatten, aber keine ernsthaften rechtlichen Konsequenzen spüren. Stattdessen wurde der eigentümliche Meister von dem geprellten, aber kunstliebenden Kardinal sogar persönlich vorgeladen und letztlich für weitere Kunstarbeiten beauftragt. Die Türen in Rom standen ihm von nun an offen.

Ein Leben zwischen den Extremen: Michelangelo und die Kirche

Trotz seines holprigen Einstieges in die Kunstwelt Roms gelang es Michelangelo rasch zum Lieblingskünstler des Papstes Julius II, dem Spross einer ehrgeizigen Adelsfamilie, aufzusteigen. Doch auch in dieser Position sollte er keine Ruhe finden, denn sein stures und hitziges Gemüt führten dazu, dass er sich im Laufe der Jahrzehnte verschiedene Male den Vorgaben der Kurie widersetzte, wenn diese seiner Kunst im Wege standen. So wurde er beispielsweise nur widerwillig zur Deckenausgestaltung der Sixtinischen Kapelle genötigt (denn eigentlich träumte er – ganz der Bildhauer – davon, das Grabmal des herrschenden Papstes zu gestalten), mit der er sich über vier Jahre seines Lebens unter teils widrigsten Arbeitsumständen herumplagen musste.

Und als er in späteren Jahren vom Papst höchstpersönlich aufgefordert wurde, die nackten Körper seines berühmten Altarbildes des Jüngsten Gerichtes zu übermalen, das er in den Jahren 1536 bis 1541 an die Westwand der Kapelle zauberte, konterte er lediglich mit einem spitzen:

„Der Papst möge die Welt in Ordnung bringen, dann bringen auch die Bilder sich bald in Ordnung.“

Und er setzte sich durch.

Wie auch bereits Leonardo da Vinci studierte Michelangelo die Anatomie des menschlichen Körpers durch das Sezieren von Leichen, welches von der katholischen Kirche – seinem Arbeitgeber – unter Strafe verboten war. Doch die Kunst, der Drang zur naturgetreuen Darstellung der menschlichen Schönheit und das Herz des Bildhauers wogen schwerer als blinde Obrigkeitshörigkeit. Um sein Leben zusätzlich zu erschweren, lebte Michelangelo zudem in einer Zeit, in welcher der Prunk und die Exzesse der Kirche das Vertrauen der Gläubigen erschütterte und Martin Luthers Reformationsbewegung befeuerten. Als genügsamer Mann mit tiefem Gottesglauben, der dem kirchlichen Reichtum selbst kritisch gegenüberstand, konnte Michelangelo folglich gewisse Spannungen mit seinem Arbeitgeber, dem Papst höchstpersönlich, nicht vermeiden. Doch ihm gelang dieser gefährliche religiöse und politische Hochseilakt, so dass er über viele Jahre hinweg zahlreiche bedeutende Arbeiten im Auftrag der Kirche ausführte – darunter auch die Bauleitung des monumentalen Neubaus des Petersdoms.

Il Divino, der Mensch

Michelangelo war aber nicht nur einer der erfolgreichste Künstler seiner Zeit und voller Selbstbewusstsein über die eigenen Fähigkeiten; er war auch ein Mensch der Widersprüche und inneren Zerrissenheit. Seine ausgeprägte Paranoia und das tiefe Misstrauen seiner Konkurrenz gegenüber (darunter insbesondere dem jungen und brillanten Künstler Raffael) sollte erst in späteren Jahren einem starken Wunsch nach Freundschaft und spiritueller Nähe weichen. Sein tiefer Glaube wiederum stand in unvereinbarem Konflikt mit seinen homosexuellen Sehnsüchten, sein irdischer Reichtum (denn er ließ sich seine Dienste teuer entlohnen) im deutlichen Kontrast zu seiner asketischen Lebensweise. Diese Widersprüche in Michelangelos Leben ziehen sich durch alle Bereiche und alle Stationen, so dass er nicht nur aus kunsthistorischer, sondern auch psychologischer Perspektive eine bis heute höchst faszinierende Persönlichkeit darstellt, deren innere Kämpfe wir nur erahnen können – und die vielleicht den Treibstoff seiner genialen Schaffenskraft bildeten.

Nach einem bewegten Leben in politisch und religiös aufgewühlten Zeiten starb Michelangelo mit 89 Jahren im Jahre 1564 als hochbetagter Mann mit spartanischen Eigentum und eifrig gehütetem Geheimvermögen. Er musste nicht mehr miterleben, wie kurze Zeit später seine himmlischen Akte in der Sixtinischen Kapelle übermalt wurden oder wie blutige Religionskriege Europa auseinander zu reißen drohten.

Seine Werke indes überdauerten die folgenden Jahrhunderte und strahlen uns auch heute noch in voller, wieder unzensierter Pracht entgegen – zur Feier der menschlichen, oft männlichen Nacktheit und Schönheit, die nicht einmal die Prüderie der Kirche bezwingen konnte.

Kunstgeschichte vs. moderne Content Creation

Leonardo da Vinci und Michelangelo waren großartige Geister, die mit unbändigem Willen, einer gewissen Sturheit und der Bereitschaft für ein Leben abseits der Norm ihrer eigenen Zeit weit voraus eilten. Beides waren mutige Künstler, die ihr persönliches Verständnis von Schönheit in einzigartigen Kunstwerken einfingen und die Menschen, damals wie heute, entgegen allen religiösen Vorgaben oder zeitgenössischen Trends verzauberten.

All das sollte uns Anlass bieten, im Vermächtnis dieser großen Meister mehr zu sehen als bloße Produkte in Stein oder auf Leinwand. Es ist ihr Lebenswerk, ihre persönliche Geschichte und ein unsterbliches Zeugnis der Realität, in der sie lebten. DAS und nichts anderes beschreibt die Kunstgeschichte.

Und aus diesem Blickwinkel betrachtet ist für mich die Kunstgeschichte weitaus faszinierender als so ziemlich jeder trendige Post auf Instagram, TikTok und Youtube – unserem heutigen, modernen Beitrag zur „Kunst“. Die hoffentlich auch irgendwann wieder Geschichte ist.

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Nachschlag?

Hein, T. (2018). Visionär einer neuen Welt. GEO EPOCHE EDITION Nr. 17: Die großen Maler Teil 1: Von Sandro Botticelli bis Jan Vermeer (1475-1675)*, 17/2018, 54-65.

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Warum gibt es diesen Wissenshappen?

In Zeiten, in denen sich die Welt konstant verändert und die Zukunft unvorhersehbar ist, fällt es oftmals schwer, einen Sinn für das Vergangene und Schöne zu haben. Das Leben, das wir heute führen, ist schließlich anstrengend genug. Doch sind wir nicht die ersten Menschen, die sich durch wirre und beängstigende Zeiten kämpfen. Auch unsere Vorfahren folgten ihren individuellen Lebenswegen durch gesellschaftliche Umbrüche, widrige Umweltbedingungen, Krankheiten, Kriege und soziale Unruhen, und so manch einer schaffte es dennoch, die eigenen Sehnsüchte und Wünsche, kollektiven Träume und unkonventionelle Gedanken in einzigartigen Kunstwerken festzuhalten. Einer jeden Zeit, auch der unseren, ist es vorherbestimmt, eines Tages aus der Gegenwart zu fallen und in die Geschichte überzugehen, und es ist die Aufgabe künftiger Generationen, sich ihrer zu erinnern. Die Kunstgeschichte – als oft belächeltes Fachgebiet – bietet uns einen einzigartigen, ästhetischen und persönlichen Zugang zur Vergangenheit und dem Leben und Wirken unserer Vorfahren. Sie ist somit weit mehr als ein respektables Senioren- oder Zweitstudium – sondern ein eindrucksvolles Zeugnis der menschlichen Geistes- und Schaffenskraft.

Was sollte unbedingt verdaut werden?

Michelangelo Buonarroti galt bereits seinen Zeitgenossen als absolutes Genie, als unerreichter Künstler, gar als: il Divino, der Göttliche. Doch so großartig seine Kunstwerke in Stein und auf (Lein-)Wand auch waren, so zerrissen war er als Mensch, der seine eigenen Sehnsüchte und Überzeugungen nur schwerlich mit den rigiden Vorgaben und zunehmenden Exzessen seines Arbeitgebers in Einklang bringen konnte: der katholischen Kirche und dem Papst höchstpersönlich. Doch trotz oder dank seines sturen Wesens konnte sich der talentierte Künstler durch die Wirren seiner Zeit kämpfen und atemberaubende, ja fast unmögliche Kunstwerke schaffen, die Michelangelos Sinn für die Schönheit genauso wie sein eigentümliches, teils paranoides und aufbrausendes Wesen widerspiegeln. Sein David oder das Jüngste Gericht sind bis heute berühmte Denkmäler dieses eigensinnigen Ausnahmekünstlers und seiner Liebe für die Schönheit und die männliche menschliche Nacktheit.

Disclaimer:
Der obenstehende Text wurde auf Grundlage der gelisteten Quellen erstellt, ist aber explizit unter Berücksichtigung der subjektiven Erkenntnisse, Vorlieben und dem persönlichen Verständnis der Autorin aufzufassen. Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Ausarbeitung mit akademischen Anspruch, sondern um eine Zusammenfassung von Geschehnissen und Erzählungen nach individuellem Stil und Empfinden der Autorin. Ausnahmslos jeder Wissenshappen möchte Freude am Wissen schaffen, aber nicht als Fachliteratur verstanden werden. Über Anmerkungen, Ergänzungen, Lob oder Kritik freut sich die Autorin und lädt jeden Leser dazu ein, über die Kommentarfunktion Kontakt aufzunehmen.

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Last modified: 29. Januar 2024