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Auf den Schultern eines Riesen: Alexander von Humboldt & das Verständnis der Natur

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Als „berühmtester Mensch seit der Sintflut“ war er das große Idol seiner Zeit, und auch heute noch begegnet uns sein Name weltweit in Form unzähliger Bildungseinrichtungen und Straßen, einer berühmten südamerikanischen Meeresströmung, verschiedener Berg-, Fluss-, Tier- und Mineralienarten und sogar einem Krater auf dem Mond. Doch seine Taten und Entdeckungen, seine Erkenntnisse und Beiträge zur Wissenschaft im Allgemeinen und der Ökologie im Speziellen, seine revolutionären Thesen und bedeutenden Freundschaften mit den Geistesgrößen seiner Zeit sind heutzutage vielfach in Vergessenheit geraten – allen voran im deutschsprachigen Raum, seiner Heimat wider Willen. Die Rede ist von Alexander von Humboldt, einem der letzten großen Universalgenies und dem Entdecker des Ökosystems, dem wir zu einem Großteil unser heutiges Verständnis der Natur als ganzhaften, lebenden und vernetzen Organismus und ihres fragilen Gleichgewichts verdanken.

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Die Familie von Humboldt – Brutstätte der Genies

Geboren wurde Alexander von Humboldt am 14. September 1769 in Berlin, der Hauptstadt des damaligen Preußens. Als Sohn einer bekannten Adelsfamilie wuchs er unter privilegierten Umständen in ländlicher Idylle auf dem imposanten Familienanwesen Schloss Tegel auf, wo er gemeinsam mit seinem ebenfalls hochbegabten Bruder Wilhelm nicht nur intellektuell gefördert wurde, sondern die Ruhe und Schönheit der Natur entdecken konnte. Doch diese jungen Jahren waren alles andere als beschaulich: Der Vater starb früh, die Mutter hingegen zwang ihre Söhne mit unnachgiebiger, distanzierter Art in die sicheren Pfade einer Beamtenlaufbahn im Dienst des preußischen Staates. Glücklicherweise konnte das strenge mütterliche Regiment den brillanten Geist der beiden Brüder nicht ersticken, und beide sollten auf ihren eigenen Wegen zu Größen der intellektuellen Elite des 18. und 19. Jahrhunderts avancieren.

So verdanken wir beispielsweise Wilhelm von Humboldt, Alexanders zwei Jahre älterem Bruder, eine der bedeutendsten Reformen des deutschen Bildungswesens (unter anderem durch die Vereinheitlichung der Abiturprüfung sowie die Einführung des Lehramtsexamens), die Gründung der heutigen Humboldt Universität zu Berlin sowie das humboldtsche Bildungsideal, das nicht nur die akademische Freiheit propagiert, sondern Universitäten zu jenem Ort ausruft, der unabhängig von der fachlichen Ausbildung vor allem mündige, vernunftbegabte Individuen hervorbringen soll. Nebenbei beschäftigte Wilhelm sich mit mehr als 30 Fremdsprachen, von denen er fünf selbst beherrschte, entwickelte seine eigenen, einflussreichen sprachwissenschaftlichen Theorien und übersetzte aus Begeisterung antike Verse und Tragödien. Das zu toppen mag schwer klingen – aber nicht unmöglich für den jüngeren Bruder.

Aufbruch ins Unbekannte – Humboldts Reise nach Südamerika

Alexander von Humboldt verfolgte andere Interessen als sein älterer Bruder. Nach einer schnellen und erfolgreichen Karriere als Bergassessor im Dienste des preußischen Königs entschied er sich nach dem Tod der Mutter dazu, seiner sicheren Beamtenkarriere zu entsagen, Teile seines Erbes aufs Spiel zu setzen und als Entdecker und Naturforscher an Bord eines spanischen Expeditionsschiffes in die noch recht unerforschte Wildnis Mittel- und Südamerikas aufzubrechen. Zu diesem Zeitpunkt war er fast 30 Jahre alt – also in einem Alter, in dem viele von uns heutzutage unsere Sabbaticals, Work & Travels und Langzeitstudiengänge hinter uns lassen, um in den Hafen der vollfinanzierten Wohnimmobilie einzulaufen (sofern unsere Eltern bereit sind, den Spaß mitzufinanzieren).

Diese Risikobereitschaft und die Sehnsucht nach Abenteuer an sich sind beeindruckend genug, doch Alexander, in Deutschland von Krankheiten und Unwohlsein geplagt, sollte im heutigen Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru, und Mexiko auch körperlich großartige Leistungen vollbringen. So meisterte er nicht nur die Strapazen der jahrelangen Expeditionen durch sengende Wüste, undurchdringlichen Regenwald oder die teils lebensfeindlichen Anden und ertrug dabei die Hitze und Schwüle des neuen Kontinents sowie heftige Mücken- und Ameisenplagen, sondern er demonstrierte auch sein beeindruckendes Talent für das Bergsteigen. In einem unglaublichen Aufstieg, ohne passendes Schuhwerk oder angemessene Kleidung und voll gepackt mit Messinstrumenten, erklomm er gemeinsam mit seinem Reisegefährten Aimé Bonpland und zwei lokalen Führern am 23. Juni 1802 den Chimborazo in Ecuador, der mit seinen 6.263 Metern als damals größter Berg der Welt galt. Auch wenn er es nicht bis zum Gipfel schaffte, so stellte er mit den erreichten 5.900 Metern einen neuen Höhenrekord auf und wurde mit einem Schlag zu einem der erfolgreichsten Bergsteiger seiner Zeit.

In geistige Höhen – Humboldts intellektuelle Meisterleistungen

Die physische Erklimmung des Chimborazo mag Humboldts Ruhm begründet haben, doch mit dieser körperlichen Leistung sollte sein geistiges Wirken erst so richtig beginnen: denn trotz der widrigen Umstände und körperlichen Herausforderungen auf dem gefährlichen Anstieg maß und sammelte er alles an Daten, die er in jenen fremden Höhen mit seinen Messgeräten erfassen konnte und erkannte auf seinem Weg gleichzeitig, dass sich die Entwicklung und das Aufkommen der Pflanzen je nach Höhenlage unterscheiden. Er hatte somit die Vegetationszonen entdeckt, doch bei der Entdeckung allein sollte er es nicht belassen: Seine Eindrücke und Erkenntnisse zauberte er im Anschluss an seine unvergleichliche Expedition in Form des wunderschönen, detailgenauen „Naturgemäldes“ zu Papier – eine wissenschaftliche und künstlerische Leistung, die ihresgleichen sucht.

Dieses „Naturgemälde“, seine anschaulichen Reiseberichte und meist revolutionären wissenschaftlichen Schlussfolgerungen veröffentlichte Humboldt nach seiner Rückkehr aus Südamerika in unzähligen Werken (allein seine Reiseberichte aus Südamerika umfassten 34 Bände), die mit der Veröffentlichung seiner monumentalen „Kosmos“-Reihe am Ende seines fast 90-jährigen Lebens ihren krönenden Abschluss fanden. Doch nicht nur die schiere Anzahl seiner Werke oder die Vielzahl an forensischen Daten und abgeleiteten Hypothesen und Theorien sind bis heute bemerkenswert. Auch der poetische Zugang zur Natur sowie die riesige Spanne an Themen, die Humboldt für eine breite Leserschaft bediente, sind bis heute nahezu unübertroffen. Diese Themenspanne reichte von der Ökologie und Meteorologie über die Botanik, Geologie, Zoologie, Mineralogie, Astronomie, Physik und Physiologie bis hin zur Ethnologie, Demografie und Wirtschaft – und widersetzte sich dem damals zunehmenden Trend der spezialisierten, stark eingegrenzten Wissenschaft.

Bonpland, Aimé, Arzt, Naturforscher, Entdeckungsreisender, Frankreich, 1773 – 1858, Zentralbibliothek Zürich – Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer – 000012142, gemeinfrei, Wikimedia Commons

Alexander von Humboldt statt Fridays for Future – der wahre Vater der Natur

Und wer jetzt glaubt, dass die bisherige Beschreibung von Humboldts Lebenswerk seinem überragenden Geist gerecht wird, der irrt. Gerade in unserer heutigen Zeit, in der wir unmittelbar die Auswirkungen des Klimawandels erleben, sollte jedem Umweltaktivisten Alexander von Humboldts Erbe geläufig sein: Aufgrund seiner Beobachtungen der Natur gelangte er als erster bekannter Forscher zu der Erkenntnis, dass alle Elemente der Natur, egal ob Gestein, Pflanze, Tier, Klima oder Mensch, untrennbar miteinander verbunden sind und sich wechselseitig beeinflussen. Er erörterte die katastrophalen Auswirkungen der Forst- und Landwirtschaft in Teilen Südamerikas und wies die technischen Errungenschaften der Menschheit als Treiber großer klimatischer Veränderungen aus. Die Arbeiten, Publikationen und mahnende Worte Humboldts, seine lebhaften und wunderschönen Reiseberichte dienten somit nicht nur dazu, die Heimatliebe der Südamerikaner und damit die Aufstände gegen die spanische Kolonialherrschaft zu entfachen oder Charles Darwin zu seiner Forschungsreise auf der „Beagle“ und seiner Evolutionstheorie zu motivieren. Vielmehr sollten sie zu einer bedeutenden Quelle und Katalysator für die Umweltbewegung avancieren, die im 19. Jahrhundert vor allem in Nordamerika ihre Anfänge nahm. Dass Alexander von Humboldt in Zeiten von Fridays for Future eher unbekannt ist, sollte daher umso mehr überraschen, wenn nicht gar erschrecken.

Ein Riese seiner Zeit – Humboldts Freundschaften und geistiges Erbe

Neben all seinen unglaublichen wissenschaftlichen Leistungen war Alexander von Humboldt aber auch ein begeisterter, und letztlich auch rüstiger Entdeckungsreisender, der noch im stolzen Alter von 60 Jahren auf eine mehr als 15.000 kilometerlange Reise durch Russland aufbrach. Und er war vor allem eines: ein liberaler Geist, der den Kolonialismus und die Sklaverei offen und vehement ablehnte, standesunabhängige Bildung ermöglichen wollte und der talentierte Nachwuchsforscher auch zu seinen eigenen Ungunsten noch bis ins hohe Alter förderte. Zudem war er ein begeisternder Erzähler und zentraler Bestandteil der intellektuellen Elite, tagtäglich von morgens bis spätnachts unterwegs und immer bereit, in den wissenschaftlichen oder politischen Diskurs einzutreten. Kaum ein anderer war derart gut vernetzt und konnte andauernde Freundschaften mit den brillantesten Köpfen seiner Zeit vorweisen: darunter Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Jefferson, der südamerikanische Revolutionsführer Símon Bólivar, Carl Friedrich Gauss oder der bekannte Naturforscher (und Begleiter von James Cook auf seiner Weltumseglung in den Jahren 1768 bis 1771) und Präsident der britischen Royal Society, Joseph Banks. Die einzige bekannte Persönlichkeit, die ihn nicht ausstehen konnte, war Napoleon Bonaparte – was im Rückspiegel der Geschichte vielleicht sogar als Kompliment betrachtet werden könnte.

Mit Alexander von Humboldts Erlebnissen, wissenschaftlichem Wirken und geistigem Erbe lassen sich ganze Bücher füllen, seine zentralen Erkenntnisse sollten aber jedem zumindest ansatzweise bekannt sein. Vor allem in Zeiten des Klimawandels und der verzweifelten Suche nach Ansätzen zur Eindämmung der klimatischen Entwicklungen ist es umso bedeutender, sich mit den Ideen und visionären Mahnungen dieses großen Geistes auseinanderzusetzen. Vielleicht können wir dann auch verstehen, wieso zu seinem 100. Geburtstag, 10 Jahre nach seinem Tod am 06. Mai 1859, mehr als hunderttausend Menschen auf der ganzen Welt das Leben dieses großen Wissenschaftlers öffentlich feierten. Und warum es als eine Ehre galt, „im Zeitalter Humboldts“ gelebt zu haben.

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Nachschlag?

Wulf, A. (2016). Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur* (14. Auflage). München, Deutschland: C. Bertelsmann.

Heinz, T. (2021, 29. August). Alexander von Humboldt. Planet Wissen. Abgerufen 2. Juli 2022 von https://www.planet-wissen.de/geschichte/persoenlichkeiten/alexander_von_humboldt/index.html

Lohrmann, J. (2021, 29. August). Wilhelm von Humboldt. Planet Wissen. Abgerufen 2. Juli 2022 von https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/lernen/abitur_die_reifepruefung/pwiewilhelmvonhumboldteinmannfuermenschenbildung100.html

Dannoritzer, M. (2021, 23. Juni). Kopf des Tages: Alexander von Humboldt. Der Drang zum Erbrechen war mit Schwindel verbunden“. Welt Online. Abgerufen 2. Juli 2022 von https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article232020951/Alexander-von-Humboldt-Hoehenkrankheit-am-Chimborazo.html

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Warum gibt es diesen Wissenshappen?

Hier und da mag uns der Name auffallen, vielleicht auch vage bekannt vorkommen. Doch weshalb Alexander von Humboldt berühmt war, welche Errungenschaften und Erkenntnisse wir ihm verdanken, wissen heute nur noch die wenigstens von uns – darunter insbesondere im deutschsprachigen Raum, seiner Heimat wider Willen. Doch in Zeiten des Klimawandels sollten wir einen Blick auf das große Leben und Werk dieses Mannes werfen, der als eines der letzten großen Universalgenies gilt und dem wir das moderne Verständnis der Natur als riesiges, global vernetztes (Öko-)System mit einem fragilen Gleichgewicht verdanken. Und der die Menschen seiner Zeit über viele Jahrzehnte hinweg mit seinen großartigen Werken, seinem liberalen Geist und dem Wunsch nach allgemein zugänglicher Bildung begeistern und großzügig auf seine unvergleichliche Gedanken- und Erkenntnisreisen mitnehmen sollte.

Was sollte unbedingt verdaut werden?

Alexander von Humboldt war nicht nur ein kühner Forschungsreisender, der auf seiner berühmten Expedition durch Mittel- und Südamerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts den damals höchsten bekannten Berg der Welt bestieg. Er war vielmehr ein brillanter Geist, der die Welt auf fantasievolle, poetische Weise erschloss, die Natur auf radikale Weise neu dachte und über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinwegblickte. Durch sein universelles Denken entdeckte Humboldt nicht nur die globalen Zusammenhänge der Naturelemente (und somit unser Ökosystem) oder erkannte als einer der Ersten die katastrophalen Auswirkungen menschlichen Wirkens auf die Umwelt, sondern er schuf auch unvergleichliche (Kunst-)Werke, darunter sein berühmtes Naturgemälde, seine wundervollen Reiseberichte aus Südamerika und die monumentale Kosmos-Reihe am Ende seines Lebens. Alexander von Humboldt veränderte das öffentliche Denken, inspirierte Charles Darwin zu seiner Reise auf der Beagle, entfachte die Heimatliebe der Südamerikaner und damit den Kampf gegen die spanische Kolonialherrschaft, schloss fruchtbare und inspirierende Freundschaften mit den Geistesgrößen seiner Zeit und sollte durch sein ökologisches Erbe zum Ursprung der Umweltbewegung werden – der heutzutage treibenden Kraft menschlichen Handelns.

Disclaimer:
Der obenstehende Text wurde auf Grundlage der gelisteten Quellen erstellt, ist aber explizit unter Berücksichtigung der subjektiven Erkenntnisse, Vorlieben und dem persönlichen Verständnis der Autorin aufzufassen. Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Ausarbeitung mit akademischen Anspruch, sondern um eine Zusammenfassung von Geschehnissen und Erzählungen nach individuellem Stil und Empfinden der Autorin. Ausnahmslos jeder Wissenshappen möchte Freude am Wissen schaffen, aber nicht als Fachliteratur verstanden werden. Über Anmerkungen, Ergänzungen, Lob oder Kritik freut sich die Autorin und lädt jeden Leser dazu ein, über die Kommentarfunktion Kontakt aufzunehmen.

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Last modified: 29. Januar 2024